L'Jarius Sneed: Unsere Lebensversicherung mit dunkler Vergangenheit
Kein Spieler der Chiefs wird so unterschätzt wie L'Jarius Sneed. Obwohl er als einziger Cornerback bis heute gegen die besten Receiver der Liga keinen einzigen TD zugelassen hat, fehlt er im ProBowl.
Es war nicht der Touchdown von Tyreek Hill, der nach dem Spiel am Samstag über die Social-Media-Kanäle der NFL-Fans lief, sondern das Duell mit L’Jarius Sneed an dessen Ende der Dolphins-Star ins Gras beißen musste oder aber die Szene an der Seitenlinie, wo der Chiefs-Cornerback bissig nachfragt: “Wann lernst du eigentlich fangen?“. L’Jarius Sneed ist kein netter Kumpel auf dem Feld, sondern bringt die größten Stars der NFL zum Verzweifeln. Dabei hat er eine Lebensgeschichte, an der so manch anderer zerbrochen wäre.
Mich ganz persönlich hat die Lebensgeschichte von unserem Cornerback-Star unglaublich berührt. Er kommt aus den schwierigsten Verhältnissen, ist lange Zeit ohne Mutter & Vater aufgewachsen und in seiner Kindheit war der Knast deutlich wahrscheinlicher als ein regelmäßiges Einkommen. Während unserer Party in Frankfurt am Abend vor dem Deutschland-Spiel hat mir eine der US-Gäste ihr Handy in die Hand gedrückt und gesagt: “Sag mal Hallo, das ist die Mutter von Sneed.“ Durch die Lautstärke kam kein Gespräch zustande, aber ich hätte viele Fragen gehabt. Aber lest erstmal selbst:
Familientradition hinter Gittern
L’Jarius Sneed kommt aus der Kleinstadt Minden in Louisiana. Die beste Zeit hat das Städtchen mit aktuell knapp 12.000 Einwohnern hinter sich. Benannt wurde es nach dem Ort in der Nähe von Hannover und seit den 1980er-Jahren schrumpft Minden. Laut Wikipedia ist L’Jarius Sneed die bekannteste Persönlichkeit aus dem Ort. Für ihn selbst ist es zwar Heimat, aber auch die Stadt, in die er nie wieder zurück will.
Dort ist er viele Jahre ohne sein Mutter und die gesamte Kindheit und Jugend ohne seinen Vater aufgewachsen. Nicht die Eltern, sondern seine zwei Brüder haben L’Jarius, den alle zuhause nur JJ nennen, aufgezogen, ihn gewickelt und die Milchflaschen aufgewärmt. Während sein Vater Non schon bei der Geburt im nächstgelegenen Gefängnis war, dauert es nicht lange bis auch seine Mutter in den Knast musste.
Die beiden hatten sich zwar noch im Freien kennengelernt, aber nach den ersten Dates fand das intensivere Kennenlernen, die Hochzeit und auch die Zeugung ihres Kindes hinter Gittern statt. Mutter Jane Mims hatte sich in einen Mann verliebt, der wegen zweifachen versuchten Todschlags für 17 Jahre und sechs Monate in verschiedenen Gefängnissen im Bundesstaat Louisiana war. Non wollte sich an einem Ex-Freund von Jane rächen und verletzte ihn am Arm, eine weitere unschuldige Person wurde ebenfalls von einer Kugel getroffen. An der Liebe zu Non änderte das für sie erstmal nichts.
Aufwachsen ohne Eltern
So lernte L’Jarius seinen Vater immer nur nach langen Autofahren für einstündige Treffen unter Beobachtung kennen. Doch auch seine Mutter kam in Probleme mit dem Gesetz als sie ihren jüngsten von drei Söhnen nach einem Unfall mit einem Spielzeugfahrrad schnellstmöglich ins nächste Krankenhaus bringen wollte. Sie fühlte sich von langsam fahrenden Autos blockiert und stellte sie zur Rede. Die Folge: Vier Jahre und drei Monate Gefängnis wegen einer gefährlichen Körperverletzung mit einem Messer. Da war ihr Jüngster gerade mal ein Jahr alt.
Obwohl seine Oma mütterlicherseits jetzt für ihn verantwortlich war, kümmerte sich meist sein neun Jahre älterer Bruder Harrison um ihn. Noch heute redet er von ihm als seinen “kleinen Jungen”, der mit nur zehn Jahren die tägliche Verantwortung für seinen Bruder übernommen hat. Erst an Sneeds sechsten Geburtstag überraschte ihn sein Mutter auf dem Heimweg. Sie war wieder frei und hatte sich vorgenommen keinen weiteren Tag im Leben ihrer Kinder zu verschwenden. Bis heute ist sie nicht wieder mit dem Gesetz in Konflikt gekommen.
Als sein Vater aus dem Gefängnis entlassen wurde, war Sneed gerade in der Middle-School – also knapp 13 oder 14 Jahre alt und hoffte zum ersten Mal in seinem Leben eine Vaterfigur zu erhalten. Non Sneed entschied sich aber nicht in Minden zu bleiben, sondern zog direkt nach Dallas. Weil L’Jarius in der Zeit zum ersten Mal in der Schule auffällig wurde und sich mit Mitschülern prügelte, schickte ihn seine Mutter für ein Schuljahr zum Vater.
Das Experiment funktionierte nicht nur nicht, es eskalierte sogar relativ schnell. Eines Nachmittags schwänzte L’Jarius den Unterricht und sein Vater stellte ihn zur Rede. Der wollte nicht sprechen, sondern sich mit seinem Vater prügeln, hatte jedoch keine Chance. Non drückte ihn zu Boden und machte ihm klar: So läuft es hier nicht. Doch sein Sohn konnte das nicht akzeptieren und ließ sich von seiner Mutter abholen. Beide waren enttäuscht und wollten erstmal nichts voneinander wissen.
Später erzählte sein Vater in einem Interview, wie tief ihn dieser Streit getroffen hatte. Er konnte nicht verstehen, dass sein eigener Sohn nicht bei ihm bleiben und ihn als Mensch akzeptieren wollte. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen und so versuchte er sein Leben zu verändern. Auch für L’Jarius war die Zeit bei seinem Vater prägend: Nach vielen Jahren hatte er sich darauf gefreut, dass sein Vater frei war und er mit ihm zusammen Zeit verbringen konnte – doch die Erwartungen wurden enttäuscht und er brauchte Zeit, das zu verarbeiten.
Mit Football den Familienfluch brechen
Im Football konnte L’Jarius Sneed die Aggressionen und Ängste ausleben. In der Highschool war er auf beiden Seiten des Balles aktiv, schaffte aber mit starken Leistungen als Safety den Sprung ans College. Auch da wollte er nicht weit weg von zuhause und wählte die nächstgelegene Universität: Lousiana Tech - knapp eine Stunde von Minden entfernt. Dort hatte er gute vier Jahre, fiel aber nicht nur durch seine Leistungen auf dem Feld auf, sondern verbrachte sogar eine Nacht im Gefängnis.
Zusammen mit einem Freund wurde er an Silvester angehalten und nachdem im Auto sowohl Marijuana, als auch eine Waffe gefunden wurde, mussten beide erstmal in den Knast. Am Morgen danach wurde Sneed entlastet und freigelassen. Einige Monate später kam er wieder mit dem Gesetz in Konflikt: Freunde von ihm überfielen einen Drogendealer und schossen ihm in den Rücken. Sneed war bei der Verhaftung ebenfalls im Auto und wurde direkt mitgenommen. Noch bei der Polizei rief er heulend seine Mutter an, die ihm daraufhin den Rat gab: “Das ist nicht normal, du entscheidest dich, was du aus deinem Leben machst.” Sein Vater wurde noch persönlicher: “Sei nicht wie ich. Du kannst den Fluch unserer Familie brechen.”
Das saß und L’Jarius entschied sich den Fokus auf den Sport zu setzen und seine Zeit für seine eigene Entwicklung zu investieren. Seine College-Karriere war gut, aber nicht sensationell. Er zeigte immer wieder Potential, aber war nicht immer in der Lage, mit schnellen und wendigen Receivern mitzuhalten ohne Körperkontakt zu suchen. Die NFL schätzte ihn als Late-Round-Pick mit Special-Teams- oder Backup-Potential.
Seiner Mutter ein Haus, den Vater als Koch
Die Chiefs hingegen sahen in ihm einen Spieler, der in das aggressive Defensivsystem von Spagnuolo optimal reinpasste. Sie hatten aber Bedenken, dass die Verhaftungen und negativen Schlagzeilen Sneed von einer Karriere abhalten könnten. Er konnte sie im direkten Gespräch vor dem Draft davon überzeugen, dass die Probleme ein Ding der Vergangenheit waren. Das er sich verändert hatte und alles für eine erfolgreiche Laufbahn in der NFL tun würde.
So drafteten die Chiefs L’Jarius mit dem 138. Pick in der vierten Runde im Draft 2020 und dieser zahlte schon im ersten Spiel der Saison als amtierender Super Bowl Sieger mit einer Interception gegen die Texans zurück. Von seinem ersten Gehaltscheck kaufte er seiner Mutter in Minden ein Haus, wünscht sich aber eigentlich, dass sie zu ihm nach Kansas City zieht. Seinen Vater holte er direkt nach KC, weil die Chiefs ihm anboten, einen privaten Koch bezahlen zu wollen. Sein Vater hatte vor seiner Zeit im Gefängnis eine entsprechende Ausbildung absolviert, daher fiel die Entscheidung auf ihn.
Die Angst vor alten Zeiten bleibt
Die Probleme in der Highschool und im College hat Sneed weit hinter sich gelassen, aber noch heute kämpft er mit der Unsicherheit auf sich alleine gestellt zu sein. Als Spieler in der NFL hat er plötzlich viel zu verlieren und als Vater eines Sohnes übernimmt er jetzt Verantwortung und ist ein Vorbild. Er gibt selbst zu, dass die Gedanken nicht immer positiv sind – zu viel Unheil hat erlebt oder von seiner Familie gehört.
Denn nicht nur sein Vater war lange im Gefängnis, auch dessen Vater hat den Großteil seines Lebens hinter schwedischen Gardinen verbracht: Er hatte 1974 bei einem Einbruch Schmiere gestanden und seine Komplizen haben einen der Bewohner getötet. Dafür ging es 47 Jahre hinter Gitter. Auch seinen Sohn lernte er nur die in den ersten vier Jahre dessen Lebens kennen. Ironischerweise durften die beiden in den letzten sieben Jahren von Nons Zeit hinter Gittern in einer Zelle verbringen – Familienzuführung bei den Sneeds.
L’Jarius hingegen will von alle dem nichts mehr wissen. Er zeigt seine Leistung auf dem Feld und Woche für Woche verzweifeln Receiver in der NFL an seiner Hartnäckigkeit, dem Biss, Trashtalk und den langen Armen, die im letzten Moment Catches verhindern.
Respekt, L’Jarius! Dein Leben ist unfassbar großes Tennis – weit über den Football hinaus.